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Traum oder Alptraum digitale Bohème? Aus dem Leben einer Fashiondesignerin

Was ist die digitale Bohème?

Vor über zehn Jahren beschrieben die beiden Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo in ihrem Buch „Wir nennen es Arbeit“ die Arbeitswelt der „Digitalen Bohème“. Sie machten eine neue Spezies von Kreativen und Selbstständigen aus, die mit Hilfe neuer Technologien ortsungebunden arbeiten und somit selbstbestimmter leben. Als Vision wurde eine Vernetzung dieser kreativen Gemeinde zu einem leistungsstarken Kollektiv jenseits der Festanstellung aufgezeichnet.

Wahre Begeisterung (Artwork by Christine Dahlmanns)

Die Ästhetik des Mülleimers

Ich kenne Iris jetzt seit über 20 Jahren. Sie ist genial, die beste Modedesignerin, die ich kenne und dank meines langjährigen Weges in der Modewelt kenne ich einige Designer. Sie ist innovativ, begeisterungsfähig, sehr begabt und arbeitet seit Jahrzehnten selbstständig. Ihre ganze DNA scheint nur aus Farben, Stoffen und den neusten Modetrends zu bestehen.

An einer Bushaltestelle auf der Donnersberger Brücke in München geht sie zum Beispiel vor einem abgeblättertem alten Mülleimer andächtig in die Knie und schwadroniert begeistert von seinem Vintage-Camouflage Dessin welches „total hip“ wäre. Ich stehe leicht bedröppelt neben ihr und mir wird mal wieder klar, daß mir einfach die nötige Genialität fehlt um dieses trendweisende Gebrauchsobjekt als solches zu dechiffrieren und im Anschluss daran auch angemessen zu würdigen. Die 9 anderen Menschen, die mit uns an der Haltestelle stehen spiegeln meinen verständnislosen Gesichtsausdruck wieder, wobei bei den meisten noch ein kleiner Anflug von Panik zu erkennen ist angesichts meiner enthusiastischen im Strassendreck knieenden Freundin, welche sich ganz offensichtlich im Zwiegespräch mit einem Mülleimer befindet.

Die Freiheit des neuen Arbeitens (Artwork by Christine Dahlmanns)

Wie wird man zum Mitglied im Club ? Ein Fallbeispiel

Über die Jahre international unterwegs, Jobs in Frankreich, Schweiz oder den Niederlanden war Iris prädestiniert als Mitglied der digitalen Bohème. Zumal sich auch der Workflow vom künstlerischen Entwurf auf dem Papier (man kennt die hübschen Modezeichnungen von Wolfgang Joop – und ja, Iris kann das genauso gut) hin zu sogenannten „flats“, vektorialen Skizzen eines flach auf dem Boden liegenden Kleidungsstückes, erstellt in einem Grafikprogramm, entwickelte. Das Arbeitsgerät wurde immer kleiner und Iris konnte sich sehr bald ihr geliebtes Mac-Book unter den Arm klemmen. Hurra, diese Freiheit! Diese Unabhängigkeit! Ich kann von überall aus arbeiten! Im Café, am Badesee, in meiner Ferienwohnung in Nizza, in der Sauna….naja, fast.

Man muss Prioritäten setzen! (Artwork by Christine Dahlmanns)

Die verzwickte Sache mit der Freiheit

Das die Geschichte mit der vermeintlichen Freiheit ein zweischneidiges Schwert ist verdeutlicht eine kleine Anekdote, die bereits einige Jahre zurück liegt. Meine Hochzeit sollte in Zanzibar stattfinden und Iris als meine Trauzeugin nahm gerne den weiten Weg nach Afrika auf sich, da sie ja „selbstbestimmt und überall arbeiten könne“. Das klitzekleine Problem ist nur, dass sie das auch so an die Modefirmen transportiert hat und sie fortan einfach auch überall arbeiten musste. Das Wort „Urlaub“ ist im Business als Selbstständiger ja sowieso ein ähnliches Schimpfwort wie „Wochenende“. Es ist tatsächlich ja auch egal wo man ist, Hauptsache man ist toujour erreichbar und liefert. So saß also Iris am Tag meiner romantischen Trauung unter Palmen noch vormittags am Pool und arbeitete hektisch unter enormem Zeitdruck an einer Kollektion, weil sie ja den Nachmittag ausfallen würde. Sie hatte sich mit Sonnencreme eingeschmiert in ihrer Hektik aber vergessen sich diese im Gesicht auch einzureiben. Verwundert betrachteten andere Reisende die offensichtlich schwer gestresste Iris mit ihrem komplett weißen Gesicht. Auf meinen dezenten Hinweis bemerkte sie nur mürrisch, dass sie unmöglich mit ihren Fingern diese Creme verteilen könne, weil dann das Mac Book leide und am Ende nicht mehr funktionieren würde und sie dann nicht mehr ARBEITEN könne. Heroisch saß sie also die irritierten Blicke ihres Umfeldes aus. Fünf Minuten vor der Trauung war sie auch da, ohne Sonnenmilch im Gesicht, chapeau! Während eines privaten Insel-Ausfluges im Rahmen der Feierlichkeiten blieb Iris allerdings sowohl bei der Gewürzplantage als auch beim altehrwürdigen Markt lieber alleine im alten VW Bus ohne Klimaanlage sitzen, als ihr Notebook wahlweise alleine im Hotel oder im Auto zu lassen, oder es gar der Gefahr auszusetzen außerhalb des faradayschen Käfigs geklaut zu werden. Am Schreibtisch wäre das zumindest kein Thema gewesen.

Digitaler Eskapismus (Artwork by Christine Dahlmanns)

Cuba libre!

Über die revolutionären Vorteile der Digitalisierung brauche ich hier nicht sprechen, auch der Traum vom ortsungebundenen und freien Arbeiten ist erstrebenswert. Ich selbst könnte mir nicht mehr vorstellen anders zu leben. Und mit mir sind es knapp 1,5 Millionen Selbstständige und somit gut 500 000 mehr als noch vor 10 Jahren. Gerade in den freien Kulturberufen und dem Beratersegment boomt dieses Modell. „Die digitale Boheme verzichtet dankend auf einen Anstellungsvertrag und verwirklicht mittels neuer Technologien den alten Traum vom selbstbestimmten Arbeiten“ wie es bei Sascha Lobo so schön hiess. Frei nach Brecht ist das Credo der Solo-Selbständigen „ich will unter mir keine Sklaven haben, über mir keinen Herren“. Doch wenn Du Dein eigner Herr bist, sei dir doch wenigstens manchmal ein guter Herr!

Michael, der Mann von Iris scannt nun seit einigen Jahren jedes Jahr den Globus mit dem Anspruch neue Ecken ohne durchgängiges W-Lan oder Internet Cafes zu finden. Die beiden sind die letzten drei Jahre nach Kuba gefahren. Iris ist hier in der Lage ihren Kunden einigermaßen glaubhaft zu versichern, dass es kaum W-Lan gäbe und sie so leider, leider die nächsten zwei Wochen nicht arbeiten könne.

Die Serengeti ist auch noch ganz gut. Oder der Himalaya?

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